Jahresrückblick
Das Jahr 1958
Eisenbahnzug fährt. Schranke wird geöffnet. Frage an Schrankenwärter: "Was hat Ihnen im letzten Jahr am meisten Freude gemacht?" Frage an Straßenbauarbeiter: "Was hat Ihnen im letzten Jahr am meisten Sorge gemacht?" Frage an Glöckner: "Und was erhoffen Sie sich vom neuen Jahr?" Stammtischrunde. Münder bewegen sich. Menschen gehen bildfüllen. Frau Dr. Noelle Neumann vom Allensbacher Institut für Demoskopie O-Ton: "Denken Sie an ein kleines Modell, an das maßstabsgerechte Modell eines Flugzeuges oder das Kleinmodell eines Hauses. Der repräsentative Querschnitt ist solch ein kleines Bevölkerungsmodell mit 2000 Personen statt 39 Millionen." Modellflugzeug neben Flugzeug. Modellhaus neben Haus. Lochkarten laufen in Maschine. Größte Sorge: Krankheit! Bilder von Kranken, Operation. Bestrahlung. Wohnungssorgen: Frau mit Kind geht in Nissenhütte. Geldmangel: Gerichtsvollzieher klebt Kuckuck an Kuckucksuhr. Ärger über Mode: Tonnenrock. Sehr enger Rock, man kann nur kleine Schritte machen. Verkehr: Mann rüttelt an "Ente". Finanzamt: Mann verläßt in Unterhose, Frau in Unterwäsche Finanzamt. Liebeskummer: Fenstersturz. Ärger mit Chef: Streit. Ärger mit Fernsehprogramm: Mann schießt in Fernseher. Atomares Wettrüsten: Atombombenversuche Angst vor Krieg: Quemoy (UFA 111/2) US-Truppen landen im Libanon (UFA 104/2) Ostparaden. Zonengrenze, deutsche Spaltung, Flüchtlinge. Wirtschaftssorgen: Ausverkauf
Freude
Paar auf Bank. Taube auf Denkmal. Hochzeitskutsche. Massenhochzeit. Storchennest. Geburt des Prinzen von Monaco - UFA 86/4 Boxer Welpen bei Löwin. Ferien: Tauben auf dem Markusplatz. Spaghettiesser, Gondeln - UFA 104/6 Gesundheit: Baby auf Topf. Stege klemmt sich in kleines Auto. Karnevalsgarde München - Kehraus Fasching - UFA 82/8 Zille Ball in Berlin - UFA 77/3 Solopaar tanzt klassisches Ballett Will Quadflieg und Anneliese Römer/ Oktoberfest München - UFA 113/8 Algerien Unruhen - UFA 95/5 Stürme und Überschwemmungen Flugzeugunglück in München - UFA 81/1 Bezwingung des Südpols - UFA 76/12 Entwicklung der Technik: Überschallflugzeuge, Astronautentraining Raketenabschüsse. Weltausstellung Brüssel Feuerwerk - UFA 91/7 Geldscheine, Neubauwohnungen-Klingeltafel. Urlaub, Friedensglocke, Baby, groß.
"Was hat Ihnen im letzten Jahr am meisten Freude gemacht?" "Was hat Ihnen im letzten Jahr am meisten Sorge gemacht?" "Und was erhoffen Sie sich vom neuen Jahr?"
Genau das wollten wir einmal herausbekommen. Wenigstens einmal im Jahr wollten wir Ihre Meinung hören, eine Meinung wie sie vielleicht sonst nur in der erlösenden Runde eines Stammtisches ausgesprochen wird.
Mit anderen Worten also, dem Volk auf's M ... ... na ja, Sie wissen schon. Und zu diesem Zweck haben wir das Allensbacher Institut für Demoskopie gebeten, für uns diese Umfrage zu machen, eine Umfrage, die einen nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgewählten Querschnitt der Bevölkerung erfaßt. Jeder Bundesbürger ist darin zumindest symbolisch einmal vertreten. Und daß dabei jeder Griff ins volle Menschenleben einer systematischen Auswahl gleichkommt, ließen wir uns von Frau Dr. Noelle-Neumann bestätigen:
"Denken Sie an ein kleines Modell, an das maßstabgerechte Modell eines Flugzeuges oder das Kleinmodell eines Hauses. Der repräsentative Querschnitt ist solch ein ließen Bevölkerungsmodell mit 2000 Personen statt 39 Millionen."
Wissenschaftlich gefiltert durch Lochkarten und Hollerithmaschinen ergab sich somit die Öffentliche Meinung über das vergangene Jahr. Ihre Freuden, Ihre Hoffnungen und Ihre Sorgen.
Und was war demnach die größte Sorge?
Sie werden sich wundern. Mit 39 % hat sie einen geradezu schmerzlichen Rekord erzielt: Die Sorge um das eigene Wohlergehen, beziehungsweise um die Gesundheit.
Vielleicht geht es uns zu gut. Bedenken Sie doch den Ansatz zum Wohlstand ...
... der in Deutschland ja auch noch gewisse Ausnahmen zuläßt. 5 % der Bevölkerung klagen nämlich über Wohnungssorgen ... ... und 17 % über den chronischen Mangel an Geld.
Und worüber hat man sich geärgert? Über die Entwicklung der Mode zum Beispiel, mit der kein Mensch mehr Schritt halten kann.
Für den täglichen Ärger sorgten die modernen Verkehrsmittel. Ja, das Maß ist gerüttelt voll.
Für den dauernden Ärger das zuständige Finanzamt Der Herr im Hintergrund, das bin ich.
Ganz und gar nicht zu übersehen: der Liebeskummer. Es gab Fenstersprünge.
Ja ja und mißglückte Seitensprünge.
Ärger mit dem Chef. Und Ärger mit dem Fernsehprogramm.
Und warum jetzt diese Bilder des Grauens? Immerhin, das atomare Wettrüsten wurde von 15 % der Bevölkerung als größte Sorge des Jahres bezeichnet.
Muß es denn schon wieder Politik sein?
Notgedrungen, denn unter derselben Rubrik erscheint die Furcht vor der dauernden Kriegsgefahr. Quemoy war Grund genug unruhig zu werden.
Oh ja, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen ... ... dann schalten sich sofort die Amerikaner ein und mit 1 5 % nimmt die Kriegsfurcht ein erträgliches Ausmaß an
Als Bruchteil dieser 15 % erscheint dann schließlich noch die vom Ostblock genährte Angst vor den Sowjets.
Deutschlands Sorge Nr. 1.
Richtig, denn genau 1 % der deutschen Bevölkerung bezeichnet die Spaltung Deutschlands als größte Sorge des Jahres
Und die Fieberkurve der nationalen Zerrissenheit steigt und steigt.
Eine Sorge von ebenfalls minimaler Größenordnung: die Wirtschaftssituation. Die Kaufkraft der D-Mark. Die allgemeine Teuerung und die Parole: Kaufen was der Beutel hält.
Aber die Jugend, die hat uns ganz schön Sorgen gemacht.
Sind Sie so sicher? Im Ergebnis unserer Umfrage tritt sie überhaupt nicht in Erscheinung, obwohl, ja, obwohl wir es hier wirklich mit Sorgenkindern zu tun haben.
Aber wir wollten uns doch freuen!
Gewiß! Und die größten Freuden des Jahres ergaben sich wie so oft im Vorübergehen, im Verweilen, im Nachdenken und endlich im Zupacken.
Das große Wort hieß "Familie" und mit freudiger Genugtuung bestätigen wir, daß die menschheitserhaltenden Impulse auch unser Umfrageergebnis bestimmen.
Sehen Sie, das ist sie, die Hauptperson. Ach wie niedlich.
Tja und über das Ergebnis, das 24 % aller Freuden im Bereich des harmonischen Familienlebens lagen, kann gewiß niemand traurig sein.
Das Ganze kommt mir so vor wie eine Philosophie der kleinen Zufriedenheiten ...
Und damit wären wir auch schon bei Freude Nr. 2. Ferien und Urlaub.
Am sonnigen Lido ... ... und im Schatten des Alltags ... für 15 von Hundert gab es nichts Schöneres als das.
Mit 8 % wird die Gesundheit gepriesen, die wiedergewonnene ebenso wie die unverwüstliche.
Bei 12 % ist eine Besserung der Finanzen spürbar. Typisch!- Meine Glückszahl ist 13!
Und 5 % freuen sich über eine neue Wohnung.
Der Gerechtigkeit halber wollen wir aber verkünden, daß sich die Mode für viele auch von einer durchaus annehmbaren Seite gezeigt hat
Angenommen. Aber stellen wir abschließend fest, daß für 2 % der Bevölkerung die schönste Freude im Vergnügen und Festefeiern bestand ... ... womit bewiesen wäre, daß die Feiertagswut des westdeutschen Bundesbürgers ... ... nun auch den Werktag regiert ... Nein! Sondern im Abflauen begriffen ist. Trotzdem, es war ganz schön was los.
Und dabei war es nicht einmal so 'sehr unsere tatkräftige Jugend gewesen ... ... und auch das Milieu spielt keine entscheidende Rolle mehr.
Dafür aber die Freude am Kulturbeitrag unseres Jahrhunderts! Das ist edel gemeint, aber eine Fehlanzeige.
Und ich frage mich immer wieder, liegt das nun an der Kunst oder an uns selber.
Hauptsache, man hat anderswo seinen Spaß gehabt und diejenigen, die ihn auf diese Weise haben wollen, denen sei er auch nachträglich noch von Herzen gegönnt.
Ein eigenartiger Spaß.
Weder noch, sondern Politik. Es gab weltpolitische Ereignisse, die überhaupt nicht registriert wurden. Die französischen Sorgen hielt man eben nur für französische Sorgen.
Das Jahr war ein Katastrophenjahr.
Aber die Katastrophen waren weit entfernt. Mit der Entfernung verliert das Ereignis an Schwere und die Erschütterung hat die Dauer eines Wochenschauberichts, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Längst vergessen das Flugzeugunglück von München, obwohl die ganze Welt darüber sprach.
Und der freudige Triumph über die Bezwingung des Südpols? Eine Freude, die uns im Endeffekt mehr als kalt gelassen hat.
Auch wenn sie in unserem Umfrageergebnis bemerkenswerterweise nicht zum Vorschein kommt: eine Sorge bleibt uns dennoch nicht erspart. Niemand hat davon gesprochen, niemand hat sich vielleicht Gedanken darüber gemacht. Aber finden Sie nicht auch, daß die Entwicklung der Technik immer mehr den Händen des Menschen entgleitet, daß es beklemmend ist, wenn man die Augen schließt, noch mehr, als wenn man sie offen hält.
Und wir selber? Ein Spielball unserer Erfindungen, die uns eher lächerlich als groß erscheinen lassen.
Ist es nicht ein gefährliches Spiel, das darauf hinausläuft, den Mond zu erobern, um die Erde zu beherrschen?
Wir leben im Zeitalter der großen Maßstäbe und sind doch so fröhlich über jedes kleine Glück. Wir lassen unter dem Motto "Für eine humanere Welt" riesige Atomkristalle erstrahlen und wenn wir jetzt auf Ihre Hoffnungen für das Jahr 1959 zurückkommen, dann sind es doch nur so bescheidene Dinge, auf die man einen zaghaften Blick riskiert.
Gesundheit und ein bißchen Kleingeld eine eigene Wohnung und ein schöner Urlaub das Ende eines Stacheldrahts und der Beginn des Friedens. Das ist so wenig und doch so viel.